New Organizing – Entscheidungen in der Holakratie systemtheoretisch betrachtet

25.11.2019Claudia Salowski

Unter der Überschrift „New Organizing“ habe ich mich im Sommer einem Forschungsprojekt innerhalb des Alumni-Kreises von Simon, Weber & Friends angeschlossen. Erforscht wird, wie sich New Organizing in großen Organisationen entfaltet, was dabei wie gelingt – und was nicht. Dies alles auf der Basis der Systemtheorie, des systemtheoretischen Verständnisses von Organisationen. Eines der zentralen Themen dabei ist die Frage, wie in Organisationen ein Orientierungsrahmen zum Treffen von Entscheidungen gegeben wird. Dazu habe ich mich u.a. mit der Frage beschäftigt, wie das von Brian J. Robertson entwickelte und in seiner eigenen Organisation getestete Management-System der Holakratie (übrigens: mit „a“; interessanterweise wird sowohl im Englischen als auch im Deutschen immer wieder eine leicht angepasste Schreibweise verwendet, nämlich HolOcracy statt HolAcracy, im Deutschen HolOkratie statt HolAkratie) zu Entscheidungsprämissen, also den Orientierungsrahmen für Entscheidungen, kommt.

Spannenderweise ist bereits der Titel des Buchs von Brian J. Roberston, wie ich finde, ein wenig irreführend, denn dort steht im Untertitel: „Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt“. Wenn man dabei traditionelle Ideen darüber, wie Organisationen gemanaged werden können, anlegt, ist Holakratie sicher revolutionär. Wenn es jedoch um die Frage geht, wie in der Holakratie Entscheidungen getroffen werden – und Organisationen bestehen ja, eines der grundlegenden Postulate in der Organisationstheorie, aus Entscheidungen -, dann könnte man die Holakratie eher als evolutionär bezeichnen. Eine der zentralen Annahmen dieses Management-Systems ist nämlich, dass, so will ich es formulieren, keine Entscheidung im oder über das System so gut ist wie ihre Umsetzung in der Praxis. In der Holakratie gibt es eine sehr klar definierte Meeting-Struktur, deren Aufgabe es ist, Inhalte, Rollendefinition und -verteilung sowie Strategie und Orientierungsrahmen (Entscheidungsprämissen) zu beobachten, zu bewerten und dann ggf. neu zu entscheiden.

Zu den halbjährlich empfohlenen Strategiemeetings schreibt Robertson, es brauche die Entwicklung von Orientierungsregeln, also „(…) eine[r]  leicht erkennbare[n] Faustregel, die bei der Entscheidungsfindung und Priorisierung in jedem Moment hilft (…)“ (Robertson, Holacracy, S. 125). Das ist relativ nahe an dem, was Systemtheoretiker*innen und Systemische Organisationsberater*innen meinen, wenn sie von Entscheidungsprämissen sprechen: Entscheidungen darüber, wie zu entscheiden sein soll. Besonders interessant finde ich, dass Robertson gleich einen Schritt weiter geht und das formuliert, was in Organisationen so häufig für Spannungen, Unklarheiten und Konflikte sorgt: Paradoxien, genauer gesagt: pragmatische Paradoxien (siehe hierzu auch div. frühere Veröffentlichungen), nämlich die Spannungsfelder, die in Organisationen dafür sorgen, dass das Treffen von Entscheidungen eben nicht so einfach ist, weil wir nicht gleichzeitig unterschiedliche Dinge tun oder berücksichtigen können: Wir können nicht gleichzeitig Tradition und Innovation im Blick haben, wenn wir die Organisationsstrategie für die nächsten x Jahre festlegen. Wir können nicht gleichzeitig mit derselben Anzahl an Mitarbeitenden Produkte herstellen und Kund*innen bedienen. Wir können, um es kurz zu sagen, nicht gleichzeitig nach links und nach rechts gehen, sondern wir müssen uns entscheiden. Diese Entscheidung obliegt gewöhnlich den Führungskräften eines Unternehmens, einer Organisation; und um Entscheidungen bestmöglich treffen zu können, sind Ideen zum Orientierungsrahmen besonders hilfreich. Robertson schreibt: „Achten Sie darauf, dass beide Aktivitäten für eine Organisation positiv und wichtig sind, aber es sind auch Polaritäten, die in einer Spannung zueinander stehen.“ (Robertson, Holacracy, S. 126)

Letztendlich geht es um die Definition von Leitplanken, von Wenn-Dann-Regeln, anhand derer Entscheidungen getroffen werden können, bei denen ich als Führungskraft mir einigermaßen sicher sein kann, dass sie den Erwartungsrahmen treffen, der an mich gestellt wird. Förderlich ist, wenn diese Leitplanken all diejenigen miteinander entwickeln, die sie letztendlich auch nutzen sollen, also: weg vom strategischen Elfenbeinturm, in dem früher einmal besondere Personen (bzw. Rolleninhaber*innen, Chefstrateg*innen) die Strategie ausgefuchst haben, die dann kaskadierend in die Organisation kommuniziert wurde. Ich kenne noch das sehr stark amerikanisch geprägte Format von Vision, Mission, Principles auf Hochglanzplakaten. Denn daran hinderlich war und ist auch noch heute, dass meist völlig unklar blieb und bleibt, was ein bestimmter Passus innerhalb der Strategie nun genau bedeuten soll und wie vor allem die praktische Umsetzung gelingen kann, was also die Wenn-Dann-Regel für diesen Passus sein soll. Für eine solche Erarbeitung und fortwährende (evolutionäre) Anpassung schlägt Robertson ein Format vor, in dem zunächst der Blick auf das gerichtet wird, was seit Erarbeitung der Strategie ganz konkret passiert ist, und zwar sowohl mit dem Blick nach innen als auch nach außen: Womit waren wir als Organisation erfolgreich, was hat gut funktioniert, wie erklären wir uns das. Was hat nicht funktioniert, und wie erklären wir uns das, und was hat sich innerhalb der relevanten Umwelten mit welchen Auswirkungen auf uns und die Strategie verändert. Wenn diese Situationsbeschreibung erfolgt ist und alle verstanden haben, wie die Organisation das versteht, wie sie sich das erklärt; erst dann wird der Blick auf mögliche Lösungen und Anpassungen in der Umsetzung der Strategie gerichtet. Hierzu schlägt Robertson die Frage vor: „Was sollte in der täglichen Arbeit betont werden, um diese Spannungen zu bearbeiten?“ (Robertson, Holacracy, S. 130)

Ziel sind entsprechend angepasste, neu entwickelte Leitplanken, Wenn-Dann-Formulierungen, die mir helfen, Entscheidungen innerhalb von Leitplanken besser zu treffen. Solange, bis ich sie – evolutionär – in einem nächsten Strategiemeeting wieder auf den Prüfstand stelle, das weiter mache, was sich als hilfreich und erfolgreich erwiesen hat, und anpasse, was nicht so erfolgreich war.

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