Mit Christoph Frey, meinem Gast in Folge 005 von „Kaffee, Donut, Viertelstunde“, habe ich über seine große Liebe gesprochen: die Universität und die Wissenschaft. Wie er dennoch zum Solo-Selbstständigen wurde, was es mit Organisationaler Ambidextrie auf sich hat und wie die ihn nach langer Zeit wieder zurück zum akademischen Arbeiten geführt hat, das findet sich in dieser Folge.
Claudia: Hallo Christoph! Christoph Frey heute mein Interviewgast im Podcast, herzlich willkommen! Ich starte mal direkt mit der Einstiegsfrage: Wo und wie trinkst du eigentlich am liebsten deinen Kaffee!
Christoph: Gar nicht!
Claudia: Gar nicht? Wie jetzt?
Christoph: (lacht) Aber erst mal: Hallo! Schön, da zu sein! Ich trinke ganz selten Kaffee – wenn, dann so nach dem Essen oder so. Nee, ich trinke Tee. Ich bin eingefleischter Teetrinker, und das tue ich morgens, sommers wie winters, auf der Terrasse und gucke den Vögeln zu, und das ist sozusagen meine Morgenmeditation, und ich genieße das sehr, selbst wenn es kalt ist.
Claudia: Das klingt nach sehr viel Aufmerksamkeit auf der Frage: Wer bin ich denn gerade, und wie bin ich hier? Und ich habe im Vorgespräch schon gesagt, ich finde den Namen deiner Firma, deiner Website, Wortfolio, so spannend, und es macht für mich ein bisschen so den Eindruck, als sei Sprache besonders wichtig für dich und eben auch Aufmerksamkeit auf bestimmten Dingen zu haben, insbesondere auf einer Sache. Wenn man nämlich auf dein LinkedIn-Profil geht, erfährt man direkt etwas über dein Lebensprojekt, wie du es nennst. Magst du mal erzählen, was das ist?
Christoph: (lacht) Ja, ich hab ja da geschrieben, dass mein lebenslanges Projekt darin besteht zu verstehen, warum Menschen handeln, wie sie handeln. Das war tatsächlich…, das ist schon ganz, ganz lang so. Und auch als Kind oder als Jugendlicher, da war der Schwerpunkt ein anderer, ich war ganz, ganz leidenschaftlich für Geschichte. Es war auch eigentlich immer klar, dass ich Geschichte studieren würde. Und da fokussierte sich das so ein bisschen. Verstehen warum. Warum gab es sowas wie das Dritte Reich, oder das hat mich natürlich als Kind nicht so interessiert, da waren es eher die Römer und das Mittelalter und so. Aber es ging dann auch quer durch den Gemüsegarten und durch die Epochen und irgendwann natürlich auch das Dritte Reich, wie konnte so etwas passieren. Und auch, als sich das dann änderte und ich dann gesagt hab: Nee, ich will nicht Geschichte studieren, sondern Psychologie, war das eigentlich nur ein Perspektivenwechsel. Also von der Makroperspektive hin zur Individualperspektive. Also warum verhalten sich Individuen so.
Claudia: Und auch so ein bisschen von der Kollektivgeschichte zur Individualgeschichte.
Christoph: Genau. Auch so mit der Erkenntnis – in vielen Geschichtsbüchern heute ist es nicht mehr ganz so, aber früher war es sehr en vogue, dass man da fleißig rumpsychologisiert hat: Was hat Caesar angetrieben oder Napoleon oder Hitler. Und das war dann häufig einfach erkennbare Hobbypsychologie und ganz furchtbar. Und da hat mich dann schon auch interessiert, was gibt’s da wirklich. Und umgekehrt ist Psychologie, das habe ich dann im Studium gemerkt, häufig sehr geschichtsvergessen, und tut so, als seien Individuen einfach nur über ihre Individualität erklärbar, was einfach nicht stimmt. Unser Handeln ist wesentlich auch von unserer Kultur, von der umgebenden Kultur geprägt, und die beiden Perspektiven ergänzen sich eigentlich ganz wunderbar. Ich bin auch heute noch leidenschaftlich an Geschichte interessiert und eben an Psychologie. Und wenn man sich lange genug damit beschäftigt, wird einem auch klar, dass das natürlich ein lebenslanges Projekt ist und dass das nie zu Ende ist. Und ich werde immer noch überrascht – fast jeden Tag. Also ich hab noch nicht begriffen, wie es ist.
Claudia: Ich finde tatsächlich auch die Frage, was passiert da in Interaktion, ja eine ist, die in Organisationen, und dein Schwerpunkt ist ja Personal- und Organisationsentwicklung, die in Organisationen sehr viel Bedeutung hat. So noch mal ein bisschen zurückgespult: Wie bist du dann von der Universität, also du hat studiert, Psychologie studiert, nach wie vor auch geschichtlich interessiert und heute aber in einem ganz anderen – oder vielleicht doch nicht so anderen Kontext – unterwegs, wie kommt das?
Christoph: Es ist ein bisschen wie die Geschichte einer großen Liebe, die schief gegangen ist. Ich war an der Uni und fand es toll. Also dieses Ideal der Humboldt-Universität, die verschiedenen Disziplinen, die naive Vorstellung, dass man sich dann mit Kunsthistorikern und Germanistinnen usw. auseinandersetzt, das war dann die erste Ernüchterung, dass das eher nicht stattfindet. Also ich hatte damals als Nebenfach natürlich Geschichte gewählt, und die fanden mich einfach nur sehr, sehr schräg. Und dann bekam ich ein Angebot, an der Uni auch zu arbeiten noch während des Studiums, ich war noch gar nicht fertig mit meinen Prüfungen, und das war so ein Traum, der in Erfüllung ging. Und das fühlte sich tatsächlich ein Stück weit so an wie die große Liebe, und sie hat mich erhört. Das war auch eine tolle Zeit am Anfang, ich hatte Lehrverpflichtungen, ich konnte Lehre auch ein bisschen nach eigenem Gusto machen, meine damalige Chefin, die Ulrike Six, hat mir da sehr weitegehend auch freie Hand gelassen, und ich habe das wahnsinnig genossen, auf der anderen Seite war es aber so: Die Universität ist ein wahnsinnig schwerer Tanker, und ich war immer neugierig, ich wollte immer Dinge bewegen und habe dann festgestellt, die akademische Kultur, das „Publish or Perish“ [veröffentlichen oder zugrunde gehen, Anm. d. Verf.] und so, das war nicht so meins. Ich hatte zwar riesig Freude an der Forschung, aber mein Leben dann damit zubringen, das war’s nicht. Und irgendwann merkte ich: Ich werde einfach immer unglücklicher. Und irgendwann war halt auch der Punkt erreicht, so wie in einer Beziehung irgendwie, wo man sich klar macht: Es hilft nicht, sich tapfer zu erhoffen, dass die geliebte Person so wird, wie man sie gerne hätte, sondern dann muss man sich trennen. Und das war richtig schmerzhaft tatsächlich. Und dann war die Frage: Was mache ich denn? Und dann bin ich erst mal Reisen gegangen, und dann war relativ schnell klar: Ich will Freiheit haben, ich will das machen können, was ich will, meinen Weg verfolgen, wo immer er mich auch hinführt, und dann kann ich nicht angestellt sein in einem Unternehmen oder im Konzern oder in einer Unternehmensberatung oder so. Und das Thema hatte sich dann schon im Studium oder in meiner Arbeit dann ergeben, denn ich war am Institut für Kommunikationspsychologie und Medienpädagogik, und wenn da Aufträge reinkamen – das passiere gelegentlich, dass Unternehmen anfragten: Könnt ihr mal irgendein Training oder sowas zum Thema Kommunikation machen – dann hat meine Chefin das immer mir rübergeschoben und hat gesagt: Christoph, mach mal! Und ich habe das dann halt gemacht und habe da meine ersten, zum Teil sehr, sehr schrägen Erfahrungen gesammelt, aber richtig gut. Das waren mit die spannendsten Trainings, die ich jemals gemacht habe, irgendwie ist es gut gegangen. Ich habe mir nicht wahnsinnig viele Gedanken dabei gemacht, ich habe mich da reingestürzt und habe mir gedacht: Der Einzige, der den Preis bezahlen muss, wenn’s schiefgeht, bist du selber, und das hat mir gut getaugt. Und das taugt mir jetzt seit 18 Jahren ganz gut. Irgendwie war es wohl die richtige Entscheidung.
Claudia: Sehr spannend. Und wenn ich’s richtig verstanden habe, bist du ja gerade auch in einem Projekt unterwegs, das dich so ein bisschen auch wieder zu dieser alten Liebe zurückgeführt hat. Und interessanterweise ist das gar nicht so gruselig, wie man vielleicht vermuten könnte. Manchmal ist ja so in der Nachbetrachtung eine Beziehung, aus der man sich verabschiedet hat, in der Erinnerung viel, viel schlimmer, als sie de facto war (lacht), oder viel besser, als sie de facto war. Du bist jetzt zwar nicht zurück an der Universität, aber es gibt doch ein Projekt, nämlich ein Buchprojekt, das dich schon wieder so ein bisschen „back to the roots“ bringt, wenn man so will.
Christoph: Ja, inhaltlich gar nicht so sehr, aber der Ausgangspunkt, der führt mich so ein bisschen „back to the roots“, weil ich im letzten Jahr die ganz wundervolle und gescheite und liebenswerte Kollegin Gudrun Töpfer kennen, und die war gerade in den letzten Zügen ihrer Dissertation und schrieb am Empirieteil. Die machte eine Untersuchung, es ging um Organisationale Ambidextrie, und die hatte da eine Untersuchung gemacht und sagte: Ich habe die Untersuchung gemacht, aber wie man das dann darstellt… Ich habe das gemacht, ich kannte das aus meiner Zeit am Institut, habe da auch ein Buch veröffentlicht mit Kolleginnen und Kollegen, und hab gedacht, ja, ich kann mir das ja mal anschauen. So kam ich dann da rein und habe ihr dann Ratschläge gegeben und gemerkt, das war so ein bisschen wie nach Hause kommen, also es war alles noch da, wie man sowas akademisch darstellt, wie man Daten darstellt, Ergebnisse darstellt, was in den Anhang gehört und was nicht usw. Und das hat richtig Spaß gemacht, damit wieder in Kontakt zu kommen, und dann hat die Zusammenarbeit zwischen Gudrun und mir sehr, sehr gut geklappt, also wir haben einfach viel, viel Zeit damit zugebracht, uns über Gott und die Welt auszutauschen. Und mich hat das Thema einfach interessiert, Organisationale Ambidextrie, weil ich schon eine ganze Weile lang recht unbehaglich damit war, dass… Es wird viel über New Work gesprochen und so, und agile Methoden, und es wird, ich hab mir dann gedacht: Ja, es betont jetzt eine Seite, und auf der anderen Seite nehme ich auch wahr, dass es unheimlich viele Start-ups gibt, die da sehr bemerkenswert innovativ unterwegs sind, die aber teilweise ganz häufig nichts auf die Straße kriegen oder nur sehr wenig. Und da fehlt offensichtlich etwas, und Organisationale Ambidextrie gibt mir das Konzept dazu in die Hand, das sagt: Naja, es gibt beide Modi, es gibt den sogenannten Exploit-Modus, wo es darum geht, Prozesse zu standardisieren, zu optimieren, wo Fehler auch nichts Gutes sind. Und es gibt den Explore-Modus, wo wir den Möglichkeitsraum erkunden, wo Fehler spannend sind, weil wir etwas über die Wirklichkeit lernen usw. Und wir brauchen beides, also ich brauche eine starke Exlore-Orientierung, um innovativ zu sein, um mich den Veränderungen am Markt anzupassen, aber ich brauche eben auch eine gute Verankerung im Exploit-Modus, um dann tatsächlich auch produzieren zu können, Qualität abliefern zu können usw. Und das hat uns beide auch über Gudruns Dissertation hinaus sehr beschäftigt, und irgendwann kam sie dann und sagte: Du, sag mal, wollen wir nicht ein Praxisbuch schreiben? Also sie hatte dann die Veröffentlichung für ihre Diss. Gemacht, aber das war natürlich akademisch. Jetzt haben wir so viel drüber geredet, wollen wir nicht ein anwendungsorientiertes Buch schreiben, ich hätte da eine Idee, und ich sagte: Joar, klar, warum nicht! (lacht) Wie sowas so geht, und hab mir dabei gar nicht so viel gedacht. Und das wurde dann konkret, ja, und jetzt haben wir eine Deadline!
Claudia: Droht der Verlag mit Abgabefrist!?
Christoph: Ja, genau. Und Corona kam jetzt natürlich auch ein bisschen dazwischen.
Claudia: Mhm. Und jetzt hast du anwendungsorientiert so als Stichwort gesagt, und der Podcast hat ja durchaus auch Hörer:innen, die nicht unbedingt im Beratungsumfeld oder im Organisationsumfeld unterwegs sind. Kannst du noch mal kurz und knackig Ambidextrie und vor allem auch Organisationale Ambidextrie erklären? Übersetzt heißt es Beidhändigkeit, richtig?
Christoph: Genau. Es gibt ja tatsächlich Leute, die können mit links wie mit rechts schreiben, ich kenne so Leute, das nennt man dann ambidextrisch oder ambidexter. Und das Konzept der Organisationalen Ambidextrie weist darauf hin, dass Organisationen beidhändig – als Metapher verstanden – sein müssen in dem Sinne, dass sie sowohl den Explore-Teil, das Erkunden, neue Geschäftsfelder entdecken, neue Lösungen entdecken, neue Wege, Dinge zu tun, entdecken, diesen Teil bedienen müssen als auch den anderen, den Exploit-Teil, der besagt: Jetzt haben wir das, was wir machen wollen, jetzt wissen wir, was wir machen wollen, wir wissen auch, wie es geht und jetzt standardisieren wir es und versuchen es zu optimieren, versuchen unsere Prozesse schlanker zu machen, kostengünstiger zu machen usw., das ist alles Exploit. Und ich brauche im Prinzip beides, um am Markt bestehen zu können. Das ist so in einer Nussschale das Konzept Organisationale Ambidextrie.
Claudia: Was ja auch bedeutet, dass das nicht nur für – und das Bild könnte man ja haben – für große multinationale Organisationen gilt, sondern auch der Handwerksbetrieb ums Eck muss ja immer so eine Gleichzeitigkeit, so ein Sowohl-als-auch hinkriegen, also wie soll ich beispielsweise mit ganz vielen Anfragen, die reinkommen, und gleichzeitig ganz wenig Menschen, die ich irgendwie dauerhaft anstellen kann, weil die Auftragslage nicht so gut planbar und vorhersehbar ist, wie kann ich da nach wie vor die Kunden und Kundinnen gut bedienen und mich aber auch weiterentwickeln, in meine Weiterbildung und in meine Fähigkeiten investieren. Das gibt es ja überall, und sogar auch bei uns Freiberufler:innen.
Christoph: Ganz genau. Für uns ist das genau dasselbe Thema, nur dass wir es nicht auslagern können. Was vielleicht eh nicht die beste Idee unter der Sonne ist zu glauben, man könne dann am Organigramm entscheiden: Also ihr seid jetzt explorig unterwegs und ihr seid exploitig unterwegs, das funktioniert nicht so richtig, das wird ja auch versucht. Und es geht eher darum zu gucken, wie kann ich dafür sorgen, und zwar auf der Individualebene, dass ich beide Aspekte bediene, dass ich Zeiten habe, wo ich in der Gegend rumphantasiere und neue Ideen entwickle und auch mal was beklopptes mache. Und dass es dann aber natürlich auch auf der anderen Seite Zeiten geben muss, wo ich das dann übersetze, wo ich meine Homepage aktualisiere, Buchhaltungsprozesse vernünftiger gestalte, so dass sie nicht so zeitraubend sind, und solche Dinge. Vom Individuum bis zum Konzern betrifft das eigentlich alle.
Claudia: Superspannend. Die große Paradoxie in diesem Podcast ist ja, dass bei allem Tiefgang der Geschichten und bei super Spannung, die sich da aufbaut, trotzdem nur fünfzehn Minuten zur Verfügung stehen, weil das nun mal das Format ist. Das heißt, ich komme direkt zu meiner letzten Frage an dich, Christoph: Mit wem, lebendig oder nicht mehr lebendig, würdest du denn gerne mal einen Kaffee trinken und vielleicht über Ambidextrie sprechen oder über was anderes – oder nen Tee?
Christoph: Oh Gott, ich kann mich auf gar keinen Fall entscheiden! Also gerade weil ich so geschichtsorientiert bin, hängt das ja immer davon ab, welches Buch ich gerade als letztes gelesen habe, und mit der Person oder den Personen muss ich dann ganz, ganz dringlich ganz, ganz viel reden. Und gleichzeitig erlebe ich jetzt gerade auch auf LinkedIn in Coronazeiten soviel Aktivität und soviel spannende Leute, Ich würde mich wirklich… Also klar, es gibt so ein paar offensichtliche, ja. Julius Caesar, mit dem würde ich wirklich ganz gerne mal einen Kaffee trinken, mal sehen: Alter, was hat dich denn eigentlich geritten?!
Claudia: Und schon haben wir den Bogen…
Christoph: (lacht) Ja, genau! Aber eigentlich möchte ich eher sagen: Ich möchte mit ganz, ganz vielen Leuten Kaffee trinken und ein Schwätzchen halten. Und was über sie lernen, über ihre Gedanken. Weil das ist immer spannend, es ist immer interessant.
Claudia: Super, wunderbar! Ich hoffe, wir trinken demnächst dann auch noch mal einen Tee oder einen Kaffee, ich auf jeden Fall Kaffee, du möglicherweise Tee – und vielleicht schaffen wir das dann ja auch bald mal post Corona, zumindest post Akut-Corona in der realen und wirklichen Welt. Ganz, ganz lieben Dank, Christoph, für das Gespräch und bis ganz bald!
Christoph: Ich danke dir sehr, dass ich da sein durfte, es hat richtig Spaß gemacht, und ich freue mich auf Kaffee oder Tee oder was auch immer – live und in Farbe!
Das Buch von Christoph und Gudrun erscheint 2021, und seine Wesite findet sich hier.