Scheinheiligkeit – ein häufig genutztes Mittel

25.10.2019Claudia Salowski

Im Rahmen meiner Arbeit bin ich häufig unterwegs und übernachte dementsprechend in unterschiedlichen Hotels. In leider immer noch den meisten (eigene empirische Erhebung, die sicher nicht statistisch relevant, aber gefühlt repräsentativ ist) zeigt sich am Thema auf dem Foto das Mittel der Scheinheiligkeit, also A sagen, aber B tun: In nahezu allen Hotels, in denen ich in den letzten 25 Jahren geschäftlich unterwegs war, steht im Bad ein Schild wie dieses, das Gäste im Rahmen des Umweltschutzes dazu aufruft, Handtücher mehrmals zu benutzen. Kennzeichnen sollen wir dies, indem wir Handtücher, die ausgetauscht werden sollen, auf den Boden oder in die Bade-/Duschwanne legen und solche, die wir weiter verwenden wollen, auf den Handtuchhalter hängen.

Nun – besagte empirische Untersuchung zeigt: Seit 25 Jahren hänge ich nahezu immer die Handtücher auf (es müssen ansonsten schon sehr gute Gründe dem entgegen stehen), und in den meisten Häusern – sicher mehr als 85%) erlebe ich bei meiner Rückkehr ins Zimmer, dass die Handtücher trotzdem ausgetauscht wurden.

In der Systemtheorie gibt es eine Bezeichnung für dieses Verhalten: Scheinheiligkeit als Mittel der Paradoxiebearbeitung meint: Wenn eine Organisation (und das sind sie alle) mit einer oder mehreren Paradoxien konfrontiert sind, d.h. pragmatisch entschieden werden muss, ob nun A oder B zu tun sei, wobei sich A und B gegenseitig pragmatisch oder gar logisch ausschließen (ich kann, so das vielzitierte Beispiel von Fritz B. Simon, zwar gleichzeitig nach links gehen und einen Apfel essen, aber ich kann nicht gleichzeitig nach links und rechts gehen), dann entscheiden sich manche Organisationen nach außen hin für A, de facto tun sie aber B – also beispielsweise ankündigen, dass im Sinne der Umwelt Handtücher mehrfach benutzt werden sollen und können, dem Gast aber trotz Befolgung der Regel genau diese Chance nehmen, indem die Handtücher trotzdem ausgetauscht werden.

Die zugrundeliegende Paradoxie ist dabei im übrigen durchaus nachvollziehbar in ihrer Eigenschaft als pragmatische: Einerseits will ein Hotel sicherstellen, dass die Gäste zufrieden sind und sich „be-serviced“ fühlen; andererseits ist es mindestens en vogue, sogar bedeutsam, sich im Sinne der Umwelt zu engagieren. Andere Möglichkeiten der Paradoxiebearbeitung könnten sein (wie von mir bereits beobachtet): Dem Gast wird angeboten, wenn er/sie mindestens zwei Nächte im Hause ist, per Hinweisschild ganz auf den Housekeeping-Service zu verzichten; so kommt das Housekeeping-Personal gar nicht erst in die Gefahr, die pragmatische Paradoxie im (möglicherweise nicht klar definierten und/oder kommunizierten) Sinne der Organisation zu lösen. Auch die Einführung von Zeit wird häufig als Bearbeitungsvariante genutzt: Man tut erst A, dann B – ist in diesem Beispiel eine Variante etwa von: „Wir wechseln Ihre Handtücher nur alle zwei Tage“, die ich tatsächlich bisher noch nirgendwo gesehen habe. In anderen Beispielen findet sie sich häufiger.

Auf die aktuelle Gesellschaft bezogen diskutiert Naika Foroutan dieses Phänomen am Beispiel von Migration in ihrem Buch „Die Postmigrantische Gesellschaft“, in dem sie u.a. beleuchtet, wie die Paradoxie Integration verschiedener Kulturen vs. Kulturbeständigkeit aktuell in unserer Gesellschaft bearbeitet wird. Interessant sind ihre empirischen Erhebungen zu der Frage, wie bedeutsam Grundwerte unserer Gesellschaft einerseits gesehen werden, beispielsweise das im Grundgesetz verankerte Recht auf freie Religionsausübung; und wie dann andererseits Merkmale dieses Rechts in der Ausübung bewertet werden: beispielsweise die Frage, ob Kinder in Schulen Kopftücher tragen dürfen sollten. Auch hier zeigt sich das Bearbeitungsmittel der Scheinheiligkeit, denn ein hoher Prozentsatz derer, die das Recht von Schülerinnen, Kopftuch zu tragen, ablehnen, stimmen gleichzeitig dem Recht auf freie Religionsausübung zu.

Sowohl in der Organisationsberatung als auch in der Gesellschaft gilt es meiner Meinung nach (und auch in passionierte Ausübung meiner verschiedenen Professionen), alternative Varianten der Paradoxiebearbeitung zu finden, zu entwickeln, ins Routineverhalten zu überführen, die keinen so schalen Beigeschmack hinterlassen. Dafür stehe ich morgens auf. 🙂

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