Stellvertreterkonflikte – wenn es eigentlich um etwas ganz anderes geht

16.01.2020Claudia Salowski

„Manchmal sitzen wir nach einer Auseinandersetzung ratlos im Büro und fragen uns, was eigentlich unser Problem ist“, formulierte kürzlich ein Coachee sein Empfinden zu einem Konflikt, der seit längerer Zeit immer wieder zwischen ihm und einem Kollegen hochkocht. Erfahrungsgemäß ist das ein Gefühl, das häufig in Organisationen auftritt, wenn deren Mitglieder über Konflikte nachdenken, die sie nicht verstehen.

Grundsätzlich können Konflikte in verschiedenen Formen daherkommen und auf unterschiedlichen Ebenen auftreten. Die wohlmöglich einfachste, wenngleich sehr wirkungsvolle Unterscheidung ist die Frage, ob sich ein Konflikt auf der Sach- oder auf der Beziehungsebene abspielt. Nahezu immer, wenn ich in Führungstrainings, Kommunikationstrainings, Workshops oder in Mediationsprozessen darüber spreche, wird dies eingeleitet oder kommentiert mit der Forderung, in Konflikten sei doch elementar, auf der Sachebene zu bleiben. Und meine Antwort, durch ein lächelndes Augenzwinkern begleitet, ist dann stets: „Das funktioniert aber nur, wenn es sich tatsächlich um einen Konflikt auf der Sachebene handelt!“ Und ich behaupte: Das ist nur ausgesprochen selten der Fall. Aber warum werden Konflikte so häufig emotional, ohne dass man wirklich versteht, warum? Oft kommen wir nicht weiter, wenn wir versuchen, uns Konflikte über die Persönlichkeit oder das Verhalten der handelnden Personen zu erklären.

Wenn man sich vor Augen ruft, dass das Konstrukt „Organisation“ überhaupt nur besteht, um einen Konflikt zwischen zwei (oder mehr) unvereinbaren Interessen aufzulösen – und zwar mittels Entscheidung -, dann ist gar nicht so verwunderlich, dass dieser Mechanismus von Ebene zu Ebene in Organisationen weitergegeben wird. Aber der Reihe nach: Der Grundkonflikt, den ich meine, ist die Verteilung von Ressourcen auf unterschiedliche Themen oder Handlungen. Entstehungsmerkmal einer Organisation ist, dass Ressourcen nicht mehrfach verteilt werden können, ich kann also, wenn ich beispielsweise selbstgestrickte Einkaufstaschen verkaufen will, mich in der Zeit, in der ich die Taschen produziere, nicht gleichzeitig um deren Verkauf oder gar um Marketing und Neukundengewinnung kümmern. Lösen kann ich diesen Grundkonflikt entweder über die Einführung von Zeit: Ich kann zu bestimmten Zeiten produzieren und mich zu anderen Zeiten um Marketing und andere Dinge kümmern. Der Preis dafür ist, dass ich langsamer vorankomme, weniger produzieren kann, weniger Marketing-Aktionen realisieren kann etc. Will ich diesen Preis nicht zahlen, bleibt mir nur: Delegation. Ich brauche weitere Ressourcen, die, während ich produziere, neue Kunden gewinnen. Oder ich automatisiere die Produktion (was möglicherweise in einem Qualitätskonflikt endet, aber das ist ein anderes Thema). In jedem Fall wirft die Delegation eine neue Baustelle auf, die bei der Beantwortung der Eingangsfrage, was eigentlich das Problem in so manchem Konflikt sei, eine sehr hilfreiche Spur sein kann: Die Frage nämlich, wer wann wie entscheidet, wohin was und wie viel mit welchen Kompetenzen delegiert wird. Und wie auch ansonsten Entscheidungen in der Organisation getroffen werden.

Ein Beispiel: Nehmen wir an, die Organisation, um die es im eingangs beschriebenen Konflikt geht, besteht schon seit vielen Jahren am Markt und kann auf eine sehr erfolgreiche Geschichte zurückblicken. Es gibt die Idee, dass diese Organisation heute deshalb so erfolgreich ist, weil sie schon so lange existiert, weil die Organisationsmitglieder so intensive Erfahrung haben in dem, was sie tun, und weil Vorgehensweisen etabliert sind und gut funktionieren („Das machen wir schon immer so, und das ist auch gut so“). Nehmen wir weiter an, zur Geschäftsführung sei vor wenigen Monaten ein neues Mitglied hinzugestoßen, das aus derselben Branche, aber einer anderen Organisation kommt, die dadurch erfolgreich geworden ist, dass sie neue Technologien schnell um- und eingesetzt hat und flexibel auf Marktanforderungen reagiert. Und nehmen wir weiter an, dieses neue GF-Mitglied halte nun „Innovation“ als wichtigstes strategisches Ziel hoch. Dann kann es sein, dass hier der sprichwörtliche Hund begraben liegt: Noch ist nicht klar und verhandelt, wonach denn nun Entscheidungen in der Organisation getroffen werden sollen – setzt man weiterhin auf Tradition und werden dementsprechend Vorgehensweisen beibehalten, oder erhält Innovation nun größere Bedeutung, so dass die Maßgabe eher sein soll, Entscheidungen danach zu treffen, wie sehr sie auf Neuerung in den Vorgehensweisen, weitere Technologisierung, Verbesserung von Prozessen etc. einzahlen?

Organisationen versäumen oft, solche grundlegenden Entscheidungen über Entscheidungen explizit zu treffen und in die Kommunikation zu geben, so dass sich alle Organisationsmitglieder danach richten können. Zu beobachten ist dies dann (von Außen, aber auch von Innen) häufig am eingangs beschriebenen Phänomen: Man streitet sich, ohne so richtig benennen zu können, warum und worüber überhaupt. Orte der Austragung solcher Konflikte sind häufig Teams, denn das sind die Einheiten, die letztendlich handeln und über diese Handlungen entscheiden müssen. Teams müssen wissen, ob sie nun eher auf das eine oder das andere Pferd setzen, ob sie nun eher die Tradition oder die Innovation hochhalten sollen, sonst bleiben sie unbeweglich. Und in diesen relativ kleinen und überschaubaren Konstrukten, die Teams meistens im Vergleich zu Abteilungen, Bereichen, Divisionen oder gar Sub-Unternehmen sind, wird Nichtentscheidung sehr schnell sichtbar.

Im Coaching haben wir schließlich visuell aufgearbeitet, wie das Subsystem der zwei Personen, Coachee und Kollege, in den Zusammenhang innerhalb der anderen, größeren Systeme eingebunden ist und welche verschiedenen Interessen es dort möglicherweise gibt. Dadurch wurde recht schnell deutlich: Es geht hier um einen ganz anderen Kampf, um eine ganz andere, übergeordnete Auseinandersetzung, für die der besagte Konflikt eben nur als Stellvertreter fungiert – und solange diese Auseinandersetzung nicht bearbeitet wird, lässt sich auch die Stellvertretung nicht auflösen. „Choose your battles wisely“ erhält hier eine ganz besondere Bedeutung.

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