Der Mehrwert des systemtheoretischen Ansatzes im Coaching – oder: einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht

07.05.2019Claudia Salowski

Was ist eigentlich der Mehrwert der Systemtheorie im Coaching – die Frage höre ich ausgesprochen selten, weil vielen gar nicht klar ist, worum es bei den Schlagworten „Systemtheorie“, „systemischer Ansatz“, „systemisches Coaching“ oder „systemische Beratung überhaupt geht. Wenn ich mich als Systemische Organisationsberaterin vorstelle, wird oft die Idee entwickelt, ich hätte etwas mit Arbeitsorganisation zu tun.

In den letzten Wochen hatte ich im Einzelcoaching zwei wunderbar geeignete Fälle, um deutlich zu machen, welchen Unterschied (der nach Bateson einen Unterschied macht) es macht, mit systemtheoretischen Ideen zu arbeiten – solchen also, die auf der Theorie sozialer Systeme basieren und die Frage beantworten sollen, wie solche Systeme eigentlich funktionieren).

Das erste Beispiel ist die Bearbeitung eines Konflikts im Einzelcoaching, den meine Klientin schon seit einer ganzen Weile mit einem Kollegen im selben Team erlebt. Bisher hatte sie sich das Entstehen und Weiterbestehen dieses Konflikts immer mit dem Verhalten und der Psyche der handelnden Personen erklärt: „So ist er nun mal, und so bin ich nun mal, da sind wir einfach nicht kompatibel.“ Das mag auch durchaus zutreffen. Aber was nun? Wenn es nicht mehr geht, finden Individuen und ab und an auch Organisationen dann eine individual-psychologische Antwort: Dann muss der/die „Verursacher/in“ (um ihn oder sie nicht den oder die Schuldige/n zu nennen) eben weg da – auf eine andere Position, in ein anderes Team, raus aus der Organisation. So weit, so limitierend – denn in den meisten Fällen ist dann zwar erst einmal Ruhe; aber häufig taucht ein ähnlich gelagertes Phänomen schon nach kurzer Zeit wieder auf. Systemiker stellen sich an dieser Stelle die Frage: Wie könnte man sich das Phänomen denn noch erklären? Und (auf Interventions-/Lösungsansatzebene) bietet sich dann ein Perspektivwechsel an. Im konkreten Fall haben wir visualisiert, welche Betrachtungsebenen oder „Linsen“, durch die man das Phänomen beobachten könnte, es denn noch gibt. Mindestens ist dies die Ebene der Organisation – u.a. mit der Frage, was es denn über das gesamte System, also das Unternehmen aussagt, dass dieser Konflikt entstanden ist und weiter existiert. Worauf antwortet dieser Konflikt, wofür ist er eine Lösung? Welche Entscheidungen können dadurch vermieden werden? Diese und ähnliche Fragen brachten uns zu der Erkenntnis, dass der Konflikt zwischen beiden Personen dafür sorgt, dass bestimmte Entscheidungen, die durchaus schon getroffen sind, solange nicht kommuniziert und umgesetzt werden müssen, wie der Konflikt aktiv ausgetragen wird – und davon haben ganz andere, am Konflikt Unbeteiligte, tatsächlich einen Nutzen. Statt also zu überlegen, wie meine Coachee „sich ändern“ kann (denn den Anderen können wir ja sowieso nie ändern), richteten wir nun also unsere Aufmerksamkeit auf die Frage, wie und wo sie ihren Einfluss geltend machen kann, damit die bereits getroffenen Entscheidungen endlich auch in der Organisation kommuniziert und „durchregiert“ werden können. Ein Unterschied, der insofern einen Unterschied macht, als die aktiven Handlungsmöglichkeiten nun deutlich größer geworden sind.

Einen zweiten Fall möchte ich noch schildern, der aus anderem Blickwinkel auch auf die Option schaut, sich Phänomene auch noch anders zu erklären. Ein anderer Coachee ist hochrangige Führungskraft in einer Konzernstruktur. Und hat mit historischen Relikten zu kämpfen, so will ich es einmal nennen: Das Obere Management entstammt einer Generation, die recht autokratisch-hierarchisch auf das Thema Führung schaut. Das führt dazu, dass einige Situationen emotional schwer aushaltbar sind, weil im wahrsten Sinne des Wortes Welten aufeinandertreffen. Unter anderem war das im Falle meines Coachees daran zu beobachten, dass der Vorstand sich tolle Präsentationen erarbeiten lässt – meinen Coachee aber dann (das kennt man sonst ja eher bei PraktikantInnen) im buchstäblichen Regen stehe ließ und die Präsentation selbst in den Akquisetermin mit wichtigen Offiziellen nahm. Nun kann man sich das natürlich (erneut) individual-psychologisch erklären: Der Typ ist eben ein alter Haudegen, der traut keinem, der nimmt mich (den Coachee) ohnehin nicht ernst, ich bin hier nur Handlanger. Und durchaus kann darin das eine oder andere Körnchen Wahrheit stecken. Aber auch hier: Und jetzt? Den Vorstand wird er nicht ändern, Aussitzen dauert zu lange, und Aufgeben und Gehen? Hm, auch kein so toller Gedanke. Was also tun? Nun, wir gingen der Frage nach, wie man sich das Verhalten des Vorstands noch erklären könnte. Und bei aller Non-Direktivität, die im Coaching ja häufig gepredigt wird: Interventionen leben davon, dass man Impulse setzt, die hinreichen anschlussfähig und gleichzeitig hinreichend irritierend sind; kurz: Man darf als Coach durchaus auch mal selbst etwas einbringen. Und so erzählte ich eine Geschichte, die ich von zwei (unterschiedlichen) anderen Vorständen aus eigenem Erleben kenne: Nämlich, dass häufig die Kultur (nach welchen Regeln wird das Spiel gespielt) so etwas beinhaltet wie: Vorstandsassistenten haben die Aufgabe, den Vorständen „Futter“ zu erarbeiten, mit dem sie dann auf die „Reise“ oder auf die „Jagd“ gehen (nach neuen, wichtigen Kunden oder Investoren beispielsweise). In diesem Kontext, in diesem Kulturumfeld ist es also gar nicht ungewöhnlich, dass es Eine/n gibt, der/die etwas erarbeitet, und eine/n Andere/n, der/die das dann annimmt und weiterträgt – ohne Beisein des Copyright-Inhabers sozusagen. Welchen Unterschied macht das? Die Situation an sich ist natürlich immer noch dieselbe. Aber mein Coachee kann nun alternativ davon ausgehen, dass die Entscheidung seines Vorstands zum einen aus dessen Blickwinkel gar nicht „bösartig“ war, sondern für ihn einfach „normal“ und gar nicht weiter überdenkenswert. Und – ganz zentral: Die Entscheidung hat in dieser Perspektive überhaupt nichts mit Person oder Leistung meines Coachees zu tun, sondern mit der ihm in der Organisation zugeschriebenen Rolle! Klar kann er das Ergebnis immer noch doof finden; aber die Erkenntnis: „Der meint dann damit ja gar nicht mich, sondern die Funktion, die ich aus seiner Sicht im Unternehmen übernehme!“ hat enorm (und das war deutlich sichtbar) zur Erleichterung und Entspannung beigetragen.

Und ich bin total neugierig, wie sich die veränderten Perspektiven in den nächsten Wochen auf Handeln und Umfeld der beiden Coachees auswirken. 🙂

Feedback und Kommentare zum Artikel sind, wie immer, herzlich willkommen und können über LinkedIn abgegeben werden.