Die Bereitschaft, sich verunsichern zu lassen

23.01.2019Claudia Salowski

Oft glauben wir in der Geschäftswelt, Verunsicherung sei etwas Negatives. Man dürfe nicht unsicher sein, müsse klar den Weg in die Zukunft kennen, damit man Orientierung geben und gute Entscheidungen treffen kann. Systemisch gesehen ist jedoch der Startpunkt jeder Veränderung genau das: Verunsicherung.

Wie häufig schauen wir abends am Ende der Nachrichten die Wettervorhersage in dem Glauben, wir wüssten nun, womit wettertechnisch morgen zu rechnen sei. Oft ist das ja auch der Fall. Dennoch lohnt sich ein genauerer Blick. Die Wettervorhersage ist im Grunde genommen nichts anderes als die Fortschreibung statistischer Daten aus der Vergangenheit in die Zukunft unter der Überschrift: Wie häufig ist an Tagen mit ähnlichen Parametern wie jetzt in der Folge welches Wetterereignis eingetreten? Schlichte Wahrscheinlichkeitsbetrachtung also.

Wenn wir in Organisationen Veränderung erreichen wollen, ist das häufig ähnlich: Wir blicken zurück auf Ereignisse, die unter bestimmten Rahmenbedingungen und Parametern so oder so oder ganz anders gelaufen sind und glauben – linear-kausal – mehr oder weniger sicher vorhersagen zu können, was passiert, wenn wir an dieser Schraube drehen oder dieses Rädchen wechseln. Und wenn das nicht so gut klappt wie erwartet (oder wir antizipieren, dass das geschehen könnte), holen wir uns Berater im Haus im Glauben, die wüssten es besser.

Was tut Beratung aber – wenn nicht: es besser wissen? Der Startpunkt von Beratung ist die Bereitschaft des Beratenen, sich vom Berater verunsichern zu lassen – so hat Prof. Armin Nassehi dies im November anlässlich der Tagung „In welcher Gesellschaft beraten wir eigentlich?“ des Clubs Systemtheorie in Berlin formuliert. Als Beratener lasse ich mich also in der Beratung darauf ein, das, was ich für „wahr“ gehalten, an was ich geglaubt habe – also meine bisherige Wirklichkeitskonstruktion – verunsichern, irritieren zu lassen. Ich lasse zu, dass mein Konstrukt – das Bild, das ich quasi als Bildhauer meiner Wahrnehmung in Stein gemeißelt hatte – bröckelt.

Nun sind manchmal solche in Stein gemeißelten Wirklichkeitskonstruktionen einigermaßen stabil, und als Berater hat man redlich Mühe damit, Verunsicherung zu erreichen. Das liegt unter anderem daran, dass Organisationskultur nicht direkt beeinflusst werden kann – wir können das Verhalten der Akteure beeinflussen und einüben mit dem Ziel, es zu ritualisieren; was die Organisation dann damit macht, ist eben nicht linear-kausal, Systeme reagieren häufig sehr eigen auf Irritationen.

Dennoch ist nach meiner Erfahrung eines der größten Hindernisse erfolgreicher Beratung in Veränderungsprozessen, dass die Bereitschaft des Systems, sich verunsichern zu lassen, früher oder später nachlässt. Häufig beobachte ich, dass tief verankert die Idee sitzt, es gäbe direkte Verknüpfungen von Impuls und Wirkung; und wenn letztere sich nicht zeitnah einstellt, dann kann das ja nur am Berater liegen! (Völlig verständlich; eine*r muss ja schuld sein, und dann doch am liebsten der, den man am einfachsten rausschmeißen oder ignorieren kann!)

Und jetzt? Eine der Grundregeln im Organization and Relationship System Coaching (ORSC), einer Methodik, nach der ich in der Beratung und im Coaching arbeite, ist: Reveal the system to itself – halte dem System den Spiegel vor und enthülle, was du als Berater siehst; und was das System bisher möglicherweise noch gar nicht wahrgenommen hat, worauf es kein Augenmerk hatte oder wo es nicht hingeschaut hat. Eine der zentralen Rollen von Beratung in Veränderungsprozessen ist also Verunsicherung gepaart mit permanenten Feedbackschleifen; ich gebe einen Impuls ins System; ich beobachte, wie es darauf reagiert; diese Reaktion spiegele ich dem System zurück – und irritiere es damit möglicherweise erneut. Im Ergebnis wird die Aufmerksamkeit des Systems auf die Gegenwart gelenkt, nämlich auf das, was ich im Hier und Jetzt an Veränderung anstoßen kann und was sich exakt in diesem Moment damit bereits verändert hat. Denn die Wettervorhersage überlassen wir doch lieber den Wetterfröschen. 🙂

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