Weg mit dem Rotstift! Warum Organisationen nicht bei Personal- und Organisationsentwicklung sparen sollten

26.05.2020Claudia Salowski

„Practice what you preach“ ist ein Anspruch, den viele kennen und nicht ganz so viele umgesetzt bekommen. Andersherum wird aber auch ein Schuh draus: Als ich 2010 entschieden habe, mich aus der Innenwelt von Unternehmen zu verabschieden und künftig Organisationen bei der Arbeit am System von außerhalb zu unterstützen, war und ist bis heute ein zentraler Punkt, den ich aus meiner Praxis als ehemalige Leiterin von Personal- und Organisationsentwicklung immer wieder predige: Weg mit dem Rotstift, auch wenn es mal eng wird! Viele Organisationen neigen nämlich dazu, Sparmaßnahmen in schwierigen Phasen zuerst bei einem Faktor anzusetzen, bei dem sich das massiv kontraproduktiv auswirken kann: den Mitarbeitenden. Auch zu Zeiten von Corona ging das recht schnell, Einstellungsstopps wurden verhängt und Budgets für die Personal- und Organisationsentwicklung zusammengestrichen oder gar ganz eingefroren. Für mich ist das vor allem Ausdruck dafür, wie hartnäckig sich das industrielle Verständnis von Mitarbeitenden als Kostenfaktoren hält: Ähnlich wie Rohstoffe oder sonstige Produktionsmittel, die man in harten Zeiten versucht, günstiger einzukaufen oder gar ganz einzusparen, wird der Faktor Mensch damit zum Rädchen in der Wertschöpfungskette degradiert, das zwar laufen soll, dem man aber nicht zugesteht, beachtet, betrachtet und unterstützt zu werden.

Meines Erachtens zeigt sich in vielen Organisationen unterschiedlicher Größe und Branche nach wie vor das, was Dave Ulrich, der Professor u.a. an der University of Michigan war, in seinen Arbeiten zum HR Business Partner Model seit vielen Jahren bemerkt: HR, Human Resources, leidet häufig darunter, dass sie eher als Service- und Administrationsfunktion gesehen wird und bei strategischen Entscheidungen keinen Platz am Tisch erhält. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich in den frühen 2000er Jahren mit Spannung und Interesse Ulrichs Artikel und Bücher verfolgt und Strategien ausgeheckt habe, wie wir es als PE/OE schaffen können, bei wichtigen, strategischen Unternehmensentscheidungen zumindest mit im Raum zu sein. Ein zentraler Aspekt damals war die strategische Personalplanung, die Frage also, welches Personal mit welchen Qualifikationen und Kompetenzen im Rahmen der strategischen Entwicklung des Unternehmens gebraucht würde. In einem forschungsstarken, produzierenden Unternehmen war das bezogen auf die fachliche Qualifikation noch sehr einsichtig für die Entscheider:innen, allerdings wurde es schon deutlich schwieriger mit dem Verständnis, wenn wir über reine Fachlichkeit hinausgingen. Doch entscheidend dafür, dass ich eine Strategie in der Organisation der Zukunft umsetzen kann, ist eben auch die Frage, wie die Menschen, denen das gelingen soll, miteinander und zueinander aufgestellt sind, wie Führung gut gelingen kann und was es zur optimalen Zusammenarbeit braucht.

Kürzlich habe ich einen ebook-Guide für Solo-Selbstständige geschrieben, der ihnen helfen soll, sich mit der Bewältigung der aktuellen Krise zu beschäftigen und ggf. neu aufzustellen (erscheint in Kürze). Darin nutze ich die Veränderungskurve nach Elisabeth Kübler-Ross, die ursprünglich aus der Trauerforschung und Trauerarbeit stammt und beleuchtet, durch welche Phasen wir bei einer einschneidenden Veränderung in unserem Leben gehen. Diese Kurve kann auch auf Organisationen, durchaus auch auf uns als Gesellschaft angewendet werden. In der Abbildung ist zu erkennen, dass am Beginn eines einschneidenden Ereignisses häufig der Schock steht. Wir sind wie gelähmt, wollen es nicht wahrhaben. Dann folgt die Phase der Verneinung oder auch Verleugnung, in der wir uns selbst davon zu überzeugen versuchen, dass uns das persönlich (oder auch uns als Organisation oder als Nation oder als Gesellschaft) schon nicht betreffen wird. In den ersten Wochen der Covid-19-Pandemie war dies vielerorts zu erkennen, ebenso wie die dann folgende Phase des Widerstands. Nicht alle Phasen der Veränderungskurve müssen notwendigerweise von allen in einem Veränderungsprozess durchlaufen werden, und nicht für alle stellen sich diese Phasen in der gleichen Zeitlichkeit dar. Allerdings kann es für Organisationen eine enorme Herausforderung sein, wenn sie zu intensiv, zu lange in den Phasen der Verneinung, des Widerstands und im Tal der Tränen hängenbleiben.

Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen ein massiver Sparkurs für eine Organisation das wirtschaftliche Überleben sichert, und durchaus kann eine solche Entscheidung alternativlos sein. Meiner Beobachtung nach gibt es jedoch auch eine Vielzahl an Organisationen, die sich selbst nicht gut damit beraten, einen massiven Sparkurs zu lange und zu intensiv zu verfolgen – dann nämlich, wenn die Auswirkungen dieses Kurses deutlich über die Phase des wirtschaftlichen Überlebens hinausgehen. Nehmen wir ein Beispiel aus der Intensivmedizin: Nach einem Unfall ist zunächst einmal angeraten, alles notwendige zu tun, um die Patientin zu stabilisieren. Die Vitalfunktionen werden überprüft, die Person wird an Überwachungsgeräte gehängt, um diese auch weiterhin im Blick zu haben, ggf. werden Infusionen und Medikamente verabreicht. Dann jedoch muss über das weitere Vorgehen entschieden werden. Die Patientin einfach nur weiterhin am Leben zu erhalten und den Status Quo nicht weiter zu beeinflussen (im Sinne eines „bloß nix anfassen, dann passiert auch nix“) führt nämlich, wenn schon nicht zur Verschlechterung, dann genau dazu: Es verändert sich nichts! Eine Organisation im Krisenmodus bewegt sich auch nicht im isolierten Raum. Während ich den Patienten am Tropf behalte und seine Vitalfunktionen überwache, dreht sich die Welt da draußen weiter. Andere Organisationen sind möglicherweise schon wieder aus der Lethargie aufgewacht, oder aber sie haben von vornherein entschieden, eine andere Strategie zu verfolgen.

Eine sehr interessante Beobachtung dazu habe ich jüngst bei zwei verschiedenen Organisationen derselben Branche gemacht. Man könnte vermuten, dass sich neben der Ausgangslage (wo sind die tätig, welche Produkte oder Dienstleistungen bieten sie an, wie sind sie aufgestellt etc.) auch die Strategie zur Krisenbewältigung ähneln würde, diese zeigte sich jedoch in einem konkreten Fall relativ unterschiedlich. Während die eine Organisation schon in den letzten Märzwochen angesichts der Pandemie die Schotten dicht machte, alle Mitarbeitenden in Kurzarbeit sandte und laufende Projekte auch und vor allem mit der Beteiligung externer Berater:innen stoppte, investierte die andere Organisation und entschied: Dies ist der beste Zeitpunkt, um Projekte anzugehen, für die wir in den letzten Jahren zu beschäftigt waren. Die Geschäftsleitung gab überdies eine Information an die Belegschaft heraus, in der ausdrücklich dazu aufgerufen wurde, sich weiterzubilden, es wurde zusätzliches Budget für den Besuch von Onlinekursen bereitgestellt und die Genehmigungsregeln dazu vereinfacht. Nun gibt es, wenn man darüber nachdenkt, wie die Geschichte weitergehen kann, sicher mehrere Varianten. Wir wissen heute noch nicht, welche Strategie sich letztendlich als erfolgreicher erweisen wird. Es kann durchaus sein, dass sich das eine Unternehmen finanziell überhebt; es kann aber genauso gut sein, dass es den Mitbewerber deutlich abhängt und in Sachen Qualifikation der Mitarbeitenden uneinholbar davonzieht.

In der Systemischen Organisationsberatung ist die Frage des Überlebens der Organisation die zentrale strategische Fragestellung und das zentrale Thema von Führung. Man könnte sogar sagen: Die wichtigste Aufgabe der Führungskräfte im Unternehmen ist es, sich jeden Tag so zu verhalten, dass kurz-, mittel- und auch langfristig das Überleben der Organisation gesichert wird. Dazu gehört eben nicht nur die Betrachtung der Gegenwart (die, nebenbei bemerkt, häufig auf Basis von Erfahrungen aus der Vergangenheit beruht, und nicht immer ist das hilfreich); sondern dazu gehört auch der Blick in die Zukunft und die Frage: Was müssen wir heute entscheiden, damit wir eine gute Chance haben, künftig dies oder jenes zu sein oder nicht zu sein, zu haben, zu tun oder auch nicht; wie können wir es möglichst wahrscheinlich machen, dass wir in der zukünftigen Gegenwart das als erreicht beobachten, was wir uns heute als gegenwärtige (nämlich jetzt im Moment gedachte) Zukunft vorstellen? Deshalb ist es so bedeutsam, über die Investition oder Sparmaßnahme, über das Organisationsentwicklungsprojekt oder das Leadership-Programm unbedingt noch ein zweites Mal nachzudenken, bevor Sie den Rotstift ansetzen.

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