Wir streiten zu wenig

23.09.2023Claudia Salowski

„Hm?“ werden Sie beim Lesen jetzt denken, „wir streiten doch ständig, überall liest man von der Polarisierung der Debatten und der Spaltung der Gesellschaft“. Ja, genau, entgegne ich: Wir streiten zu wenig. Zu wenig lösungsorientiert, zu wenig um Verständnis und zu sehr um verstanden werden wollen bemüht, nicht hinreichend tief in die Themen einsteigend und unterkomplex. Wir streiten überdies über die falschen Aspekte. Moment, ich erkläre gleich, was ich mit dieser ebenfalls unterkomplexen Zuspitzung meine.

Kürzlich schrieb ich bei Twitter (ich bin konservativ genug, die Umbenennung schlichtweg zu ignorieren) über die Aktion der „Letzten Generation“ (LG) am Brandenburger Tor, dass sich die Debatte wieder einmal verschiebe: hin zur Frage der moralischen Verwerflichkeit, weg von dem, worum es (auch der LG) eigentlich gehen sollte, nämlich das Erreichen der Klimaziele als Bestandteil unserer gesellschaftlichen Antwort auf die Klimakatastrophe.

Mein Eindruck ist: Je komplexer unsere Welt und die zentralen Fragestellungen darin werden, desto mehr Menschen streben nach möglichst einfachen Lösungen. Das ist nun keine neue und sicher auch keine umwälzende Erkenntnis, aber es scheint mir eine Problematik des Streitens zu verdeutlichen: Wo es tiefergehende Auseinandersetzung und ein grundlegendes Verständnis komplexer Zusammenhänge (unter Anerkenntnis wissenschaftlich fundierter Fakten, nicht zu verwechseln mit Bauchgefühl oder Meinung) bräuchte, streiten wir lieber über Gemeinplätze, geben schnell auf und erklären der Einfachheit halber die andere Seite für dumm, ignorant und unfähig.

Verstärkt wird diese Tendenz immer häufiger durch politische Akteure mit dem Fokus auf Prognosen und Wahlzettelkreuzchen, die inzwischen nicht mehr nur finden, man müsse doch den besorgten Bürgerinnen und Bürgern zuhören (auch wenn sie das selbst nur selten einlösen), nein – zusätzlich scheint nun zu einer goldenen Regel geworden zu sein, dass man jenen, ob nun besorgt oder nicht, möglichst wenig Komplexität zumuten will (oder ihnen deren Bewältigung zutraut) und stattdessen schmissige Vereinfachungen raushaut.

Zu meinem Befund in Sachen LG hatte ich kürzlich ein sehr gutes und (weil) kontroverses Gespräch mit einem befreundeten Journalisten. Meiner These, dass wir die Debatte am falschen Aspekt (Recht und Moral) aufziehen, fügte er seine hinzu: Blicke man auf die Berichterstattung, sei das alternativlos, es sei ja gerade Aufgabe der Medien, über diese Aktionen zu berichten und auch darüber zu sprechen und zu schreiben, wie die Aktionen rechtlich, moralisch und in ihren Folgen und Konsequenzen eingeordnet werden können. Toll, weil hilfreich, fand ich an dieser Auseinandersetzung, dass wir beide vor unsere Argumente jeweils ein „ich verstehe, was du meinst, und stimme dir auch absolut zu“ setzten. Wenn einer redete, hörte die andere zu – und vice versa –, fragte nach und fügte ihre eigenen Überlegungen und Argumente ein, sodass ein gemeinsames „so sieht die Sache für uns beide aus“ entstehen konnte.

Mir kam im Nachhinein ein Bild in den Sinn, das ich häufig in Konfliktmediationen verwende: Solange beide (alle) Seiten an unterschiedlichen Enden des Tisches sitzen, über den hinweg sie argumentatives Pingpong spielen, wird nichts gewonnen außer einer Verschärfung der Debatte. Erst wenn es gelingt, sich gemeinsam auf die gleiche Seite des Tisches zu stellen (egal, wo die ist), diese Position als allparteilich zu definieren und so auf das gemeinsame Problem zu schauen, wird Verständigung, Empathie und konstruktive Lösungsorientierung möglich. Das gilt insbesondere für solche Themen wie die Klimakatastrophe, denn auch wenn es einige gibt, die meinen, sich selbst durch Verleugnung des Problems aus der Gleichung nehmen zu können, werden uns die Folgen des Klimawandels alle betreffen. Wenn wir gemeinsam am Tisch auf das Problem schauen, dann geht es nicht mehr um „mein Problem“ versus „dein Problem“, sondern dann reden wir über „unsere verschiedenen Aspekte, Gedanken und Ideen“ zu ein und demselben Problem – und erkennen idealerweise dabei, dass Streiten eben additiv funktioniert.

Was die Aktionen der LG betrifft, beschäftigt mich überdies ein Aspekt, der ganz fundamental in dem ist, was ich hauptberuflich mache, Beratung von Organisationen (sozialen Systemen, und die Gesellschaft ist ja auch so eines). Dort ist nämlich die Frage wichtig, wo ich mich in meiner Beratung auf dem Kontinuum zwischen Irritation und Anschlussfähigkeit zu einem Thema X und einem Zeitpunkt Y gerade verorte mit meinen Fragen, Ideen und Hypothesen. (Wer mag, kann sich das etwas umfassender in einer Podcastfolge anhören, die meine Kollegin Christina Grubendorfer dazu mal mit mir gemacht hat.) Kurz gesagt: Wenn ich zu sehr irritiere, laufe ich Gefahr, vom System ignoriert zu werden. Es kann sein, dass man mir dann „spinnerte Ideen“ oder so etwas wie „schön und gut, aber das funktioniert hier bei uns nicht“ attestiert. Manchmal reicht es aber auch schon, wenn das System dann – wir nennen das Scheinheiligkeit – zwar so tut, als seien meine Hinweise anschlussfähig, insgeheim aber doch befindet, diese seien besser zu ignorieren, es wird also stattdessen etwas ganz anderes getan, ohne diese Differenz an die große Glocke zu hängen. Wenn ich andererseits zu wenig irritiere, geschieht für gewöhnlich: nichts. Also keine Veränderung. Man nickt vielleicht bedächtig, findet, da sollte man unbedingt mal was zu machen, ja, und man melde sich wieder, ganz bestimmt.

Ich meine: Die Aktionen der LG werden immer irritierender und immer weniger anschlussfähig. Sicher gibt es nach wie vor eine Gruppe innerhalb der Gesellschaft, die die moralischen und/oder rechtlichen Aspekte, die ins Feld geführt werden, ignoriert oder für sich anders bewertet – auch im Sinne einer Priorisierung à la „der Zweck heiligt die Mittel“. Mir scheint aber, dass die Gruppe derer immer größer wird, die dem Anliegen an sich sehr positiv gegenüberstehen, dieses jedoch immer stärker von der Ablehnung der Art der Aktionen überlagert finden. Das halte ich auch und vor allem deshalb für ein Problem, weil damit möglicherweise der Umfang an Energie, die es für die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Problem, nämlich der Klimakatstrophe, und mit der Entwicklung geeigneter Formen der Kommunikation und der Bewältigung bräuchte, kontinuierlich sinkt, auch weil Teile dieser Energie von der moralisch-rechtlichen Debatte und der Frage der Anschlussfähigkeit absorbiert werden.

Und nun? Wie gesagt, ich finde, wir streiten zu wenig. Wenn es uns gelänge, das eine und auch das andere zu tun, also sowohl darüber zu sprechen, wie geeignet die Aktionen sind und was darüber hinaus denn besser geeignet wäre (und auch noch, was das dann an konkreten Alternativen beinhalten kann), wäre diese ganze Auseinandersetzung produktiver. Dafür braucht es Räume. Das wird nicht einfach, denn am Ende des Tages gibt es (immer mehr) Menschen, die mit dieser ganzen Komplexität einfach in Ruhe gelassen werden wollen. Das sehen wir beim massiven Anstieg autoritärer Einstellungen und der fortschreitenden Normalisierung des Rechtsextremismus in diesem Land, wenn an mancher Stelle darauf reagiert wird, indem man (rechts)populistische Haltungen immer weiter normalisiert, die Debatten der 90er Jahre um Flucht und Asyl wiederholt und es nicht einmal mehr schafft, zwischen Flucht und Migration zu unterscheiden und stattdessen einfach alles in den großen Thementopf wirft. Das sehen wir bei der nach und nach abnehmenden Zustimmung zur Unterstützung der Ukraine gegen den Angriffskrieg Russlands – vielleicht noch nicht so intensiv abnehmend, glücklicherweise, aber auch hier hängt sich die Debatte immer wieder an Fragen der Zeit (man müsste schneller, man muss aber auch bedächtig) und an Fragen der Moral auf (Kriegsverbrechen und der Ausblick auf deren Fortsetzung, selbst wenn die Waffen einmal schwiegen und es zu einer fortgesetzten Besatzung in den ukrainischen Gebieten käme, gleichzeitig mit der Frage, wie das auszuhalten wäre, wenn mit immer mehr Waffen aus Deutschland in diesem Krieg getötet wird). Grundproblem auch hier: Komplexität gepaart mit Ohnmacht (was kann die oder der Einzelne schon bewirken, fragen sich manche) und gleichzeitig mit Alternativlosigkeit. Es wird nicht gehen, diese Themen einfach so wegzuignorieren, es wird auch nicht helfen, weiter unterkomplex zu polarisieren und zu glauben, wir könnten diese Themen auf der Ebene von Recht und Moral zu Ende verhandeln. Wir müssen dahin, wo’s weh tut. Und mehr und besser streiten.